Verordnung Nr. 19398 (Provisorisches Organisches Gesetz)
des Oberhaupts der provisorischen Regierung der Vereinigten Staaten von Brasilien
über Einsetzung der provisorischen Regierung der Vereinigten
Staaten Brasiliens und Erlaß anderer Bestimmungen
vom 11. November 1930
aufgehoben durch
Verfassung vom 15. Juli 1934 (port.)
Das Oberhaupt der provisorischen Regierung der Republik der Vereinigten Staaten Brasiliens verordnet:
Artikel 1. Die provisorische Regierung übt nach ihrem Ermessen und in unbeschränkter Machtfülle alle Funktionen und Befugnisse aus, und zwar nicht nur der ausübenden, sondern auch der gesetzgebenden Gewalt, bis nach Wahl der verfassunggebenden Versammlung diese die verfassungsmäßige Neugestaltung des Landes vornimmt.
Einziger §. Alle Ernennungen und Entlassungen von Beamten oder Personen in irgendwelchen öffentlichen Stellungen, seien es wirkliche, einstweilige oder kommissarische, stehen ausschließlich dem Oberhaupt der provisorischen Regierung zu.
Artikel 2. - Die Auflösung des Nationalkongresses und der gegenwärtigen gesetzgebenden Versammlungen der Staaten, (gleich welcher Art ihre Benennungen sein mögen), wird mit allen Rechtswirkungen bestätigt, ebenso die von Gemeinderäten oder -versammlungen und allen gesetzgebenden oder beratenden Organen, die in den Staaten, in Gemeinden, im Bundesbezirk oder im Territorium Acre bestehen, und ebenso, auch derjenigen bereits aufgelösten, die noch nicht tatsächlich bestanden haben.
Artikel 3. Die richterliche Gewalt des Bundes, der Staaten, des Territoriums Acre und des Bundesbezirks wird weiter ausgeübt in Übereinstimmung mit den in Kraft befindlichen Gesetzen, jedoch mit den nach Maßgabe des gegenwärtigen Gesetzes künftig erfolgenden Änderungen und mit den Einschränkungen, die sich ohne weiteres aus diesem Gesetze ergeben.
Artikel 4. Es bleiben in Kraft die Verfassungen des Bundes und der einzelnen Staaten, die übrigen Bundesgesetze und -verordnungen, ebenso wie die Stadtrats-Verfügungen, Beschlüsse und anderen Verfügungen der Gemeinden; alle jedoch, einschließlich der Verfassungen selbst, sind den Abänderungen und Einschränkungen unterworfen, welche durch dieses Gesetz oder durch Dekret oder spätere Verfügungen der provisorischen Regierung oder ihrer Beauftragten im Bereiche ihrer jeweiligen Befugnisse bestimmt werden.
Artikel 5. Die verfassungsmäßigen Garantien bleiben aufgehoben und die gerichtliche Prüfung der Verordnungen und Verfügungen der provisorischen Regierung oder der Bundesinterventoren, die sie in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Gesetz oder seinen späteren Abänderungen erlassen haben, bleibt ausgeschlossen.
Einziger §. Das habeas-corpus zugunsten der Schuldigen oder Angeklagten, bleibt bestehen bei Verfolgung gewöhnlicher Verbrechen, abgesehen von dienstlichen und denjenigen Verbrechen, für die Sondergerichte zuständig sind.
Artikel 6. Durchaus rechtsgültig und vollkommen bindend bleiben alle Rechtsbeziehungen zwischen Personen des Privatrechts, die nach Maßgabe der einschlägigen Gesetzgebung begründet sind; die jeweils erworbenen Rechte werden gewährleistet.
Artikel 7. Durchaus rechtsgültig nach Maßgabe der anwendbaren Gesetze bleiben die Verpflichtungen und Rechte, die sich aus Verträgen, Konzessionen oder anderen Verleihungen des Bundes, der Staaten, der Gemeinden, des Bundesbezirks und des Territoriums Acre herleiten, ausgenommen diejenigen, die der Nachprüfung unterworfen sind und dem öffentlichen Interesse und der Verwaltungsmoral zuwiderlaufen.
Artikel 8. Diejenigen Rechte, die sich bisher Ernennungen, freien Wohnungen, Ruhestand, Wartestand, Verabschiedungen, Gnadengehältern oder Unterstützungen, sowie im allgemeinen aus allen Verfügungen ergeben, welche sich auf Anstellung, Ämter oder öffentliche Dienste beziehen, sei es aus ihrer Ausübung oder aus ihrer Erledigung, diese einschließlich, und alle Rechtsfolgen aus richterlichen Ämtern, Staatsanwaltschaft, Ämtern in der Justizverwaltung und irgendwelchen anderen Ämtern des Bundes, der Staaten, der Gemeinden, des Territoriums Acre und des Bundesbezirks sind nicht in die Artikel 6 und 7 einbegriffen sondern können insgesamt oder einzeln durch spätere Verfügungen aufgehoben werden.
Artikel 9. Die finanzielle Selbstverwaltung der Staaten und des Bundesbezirks wird aufrechterhalten.
Artikel 10. Alle Verpflichtungen werden in voller Kraft aufrechterhalten, die vom Bunde, den Staaten und Gemeinden auf Grund von Anleihen oder irgendwelchen anderen öffentlichen Kreditgeschäften übernommen worden sind.
Artikel 11. Die provisorische Regierung ernennt für jeden Staat einen Bundesinterventor, außer für diejenigen, welche schon geordnet sind; in diesen verbleiben die betreffenden Präsidenten im Besitze der hierunter aufgeführten Machtbefugnisse.
§ 1. Der Interventor erhält in jedem Staate, die Erträge, Vorteile und Vorrechte, die die frühere Gesetzgebung desselben Staates ihrem Präsidenten oder Statthalter gewährt, wobei ihm in vollem Umfang die Ausübung nicht nur der ausübenden, sondern auch das der gesetzgebenden Gewalt zukommt.
§ 2. Der Interventor hat in bezug auf die Staatsverfassung und -gesetze, die Gemeindebeschlüsse und die Stadtrats- und Gemeindeverfügungen dieselben Vollmachten, die durch dieses Gesetz der provisorischen Regierung in bezug auf die Verfassung und die übrigen Bundesgesetze zustehen, wobei es ihm obliegt, die Verordnungen und Beschlüsse jener im Gebiet des betreffenden Staates zu vollstrecken.
§ 3. Der Bundesinterventor wird seiner Würde nach Ermessen der provisorischen Regierung enthoben.
§ 4. Der Interventor ernennt, einen Präfekten für jede Gemeinde, der daselbst alle vollziehenden und gesetzgebenden Handlungen ausübt. Der Interventor kann ihn seines Amtes entheben, sobald er es für erforderlich hält, jede seiner Verfügungen oder Beschlüsse widerrufen oder abändern und ihm Anweisungen für die gute Erledigung bestimmter Aufgaben und für die Ordnung und Wirksamkeit der Gemeindedienste erteilen.
§ 5. Kein Interventor oder Präfekt kann einen seiner Verwandten bis zum 6. Grade, sei er blutsverwandt oder verschwägert, für eine öffentliche Stellung im Staat oder in der Gemeinde ernennen, außer wenn es sich um eine persönliche Vertrauensstellung handelt.
§ 6. Der Interventor und der Präfekt haben, nachdem sie vorschriftsmäßig eingesetzt sind, die Verfügungen und Beschlüsse ausdrücklich zu genehmigen oder zu widerrufen, die sie selbst, vor ihrer Einsetzung in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Gesetz, oder irgendwelche andere Behörden, die vorher tatsächlich den Staat oder die Gemeinde verwaltet haben, herbeigeführt haben.
§ 7. Die Interventoren und Präfekten halten in dem Umfang, den die örtlichen Bedingungen ihnen gestatten, den Grundsatz der Öffentlichkeit für ihre Verfügungen und die Beweggründe, die ihnen maßgebend waren, aufrecht, insbesondere in bezug auf Erhebung und Verwendung der öffentlichen Gelder. Die monatliche Veröffentlichung der Einnahmen und Ausgaben ist Pflicht.
§ 8. Gegen die Handlungen der Interventoren ist Beschwerde an das Oberhaupt der provisorischen Regierung gegeben.
Artikel 12. Die neue Bundesverfassung hält die republikanische Bundesform aufrecht und kann die Rechte der Gemeinden und der brasilianischen Bürger, sowie die Sicherungen des Einzelnen, die in der Verfassung vom 24. Februar 1891 festgesetzt sind, in keiner Weise beschränken.
Artikel 13. Die provisorische Regierung gewährleistet mit den Hilfsmitteln der Bundesregierung und durch die Interventoren in den Staaten die öffentliche Ordnung und Sicherheit, indem sie die allgemeine Neuordnung der Republik fördert.
Artikel.14. Alle Verfügungen des vorläufigen Regierungsausschusses, der in dieser Hauptstadt am letztvergangenen 24. Oktober gegründet wurde, und der gegenwärtigen Regierung werden ausdrücklich bestätigt.
Artikel 15. Es wird der beratende Nationalrat geschaffen, und zwar mit Vollmachten und Befugnissen, die durch ein Sondergesetz geregelt werden.
Artikel 16. Es wird der Sondergerichtshof für Prozesse und Urteile über politische, dienstliche und andere Verbrechen, geschaffen. Diese werden in dem Gesetz über seine Einrichtung festgestellt werden.
Artikel 17. Die Verfügungen der provisorischen Regierung bestehen in Verordnungen, die vom Oberhaupt dieser Regierung ausgefertigt und von dem betreffenden Minister gegengezeichnet sind.
Artikel 18. Alle gegenteiligen Bestimmungen werden hierdurch für ungültig erklärt.
Rio de Janeiro, den 11. November 1930; 109. Jahr der Unabhängigkeit und 42. Jahr der Republik.
(gez.) Getulio Vargas.
(gez.) Oswaldo Aranha.
(gez.) José Maria Whitaker.
(gez.) Paulo de Moraes Barros
(gez.) Afranio de Mello Franco.
(gez.) José Fernandes Leite de Castro.
(gez.) José Isaias de Noronha.
Vorstehendes Gesetz war die "Verfassung" des diktatorischen Regimes Vargas, der am 24. Oktober 1930 durch Staatsstreich an die Macht kam und sich mit der Verfassung von 1934 einen faschistischen Staat schuf, die Verfassung jedoch 1937 als Präsident durch einen weiteren Staatsstreich wieder außer Kraft setzte, da diese Verfassung eine Wiederwahl verbot. Die Verfassung von 1937 wurde 1945 nach dem Sturz von Vargas beseitigt und 1946 durch eine demokratische Verfassung ersetzt.